Eigentlich schien das alles ganz einfach. Bei den Arbeiten zur Auffindung und Besichtigung von Fort Wilhelm und der Burgruine Schnallenstein sowie den Salzlöchern (Höhlen in der Nähe von Seitendorf und Burg Schnallenstein) hatte ich natürlich im Vorfeld Internetrecherchen betrieben und in heimatgeschichtlichen Foren die eine oder andere Frage gestellt. Es meldete sich Susanna – eine mittlerweile sehr gute und geschätzte Bekannte – und hatte neben diversen Tips auch eine Bitte: Ob man nicht mal eine Kapelle bei Voigtsdorf besichtigen und fotografieren könne. Einer ihrer Urahnen hatte sie um 1868 errichtet.
Ja klar- zugesagt. Susanna wohnt sehr weit weg und so eine Kapelle, in alten Topokarten eingezeichnet, muß schnell zu finden sein. Noch dazu im katholischen Polen. Die lassen doch da keine Kapelle zerfallen… Und selbst wenn – da wird sich immer noch jemand an den Standort erinnern. Einfach mal eben schnell vorbeifahren / vorbeigehen und ein paar Fotos für Susanna schießen. Das kann doch so schwer nicht sein. Das zu besuchende Fort Wilhelm lag ganz in der Nähe, Umweg war es also auch keiner. Das war im Jahre 2004. Doch es kam ganz anders.
Doch zuerst zur Lage und zu dem, was diese kleine Kapelle für Susanna so interessant machte.
Die hier betrachtete Kapelle liegt bei Voigtsdorf (Wojtowice) im ehemaligen Landkreis Habelschwerdt (Bystrzyca Klodzka) im Südwesten Schlesiens. Es gibt in diesem Kreis noch ein weiteres Voigtsdorf (das bei Landeck – Wojtowka). Wer sich selbst auf den Weg machen möchte – bitte nicht verwechseln!
Bis zum Kriegsende war Voigtsdorf ein typisches schlesisches Gebirgsdorf. Neben der Ansiedlung im Tal an der Straße zwischen Habelschwerdt und Hammer (Mloty) mit dem Hammerbach wurde ein Taleinschnitt, der recht steil nördlich in Richtung Hüttenguth (Huta) ansteigt, besiedelt. Auf diesem Weg gelangt man auch zum Fort Wilhelm. Heute ist weitgehend nur noch das Tal und das erste Drittel des Oberdorfes besiedelt. Weiter oben stehen nur noch ganz wenige Häuser, die Ansiedlung bei Hüttenguth (Dintershöhe – Opoczka) ist gänzlich verfallen. Man erkennt die ehemaligen Hausstandorte nur noch an den Resten von Grundmauern, Kellern und ein paar Obstbäumen, die sich bis heute erhalten haben. In den Bergen westlich dieses Oberdorfes soll die Kapelle stehen.
Die Kapelle selbst – in der historischen Literatur als Schneiderkirchlein oder auch Maria-Hilf-Kapelle bezeichnet, soll je nach Quelle zwischen 1866 und 1869 von einem Franz PRAUSE errichtet worden sein. Über die Personenidentität besteht noch nicht restlos Klarheit. Während Dr. Paul REINELT in [1] die Lebensdaten mit 00.00.1796 bis 24.03.1877 angibt, könnte es sich auch um einen Franz Anton Ignatz PRAUSE handeln, der von 22.09.1798 bis 21.05.1876 lebte. Susanna schreibt dazu: „Die Voigtsdorfer Prause-Sippe war weit verzweigt. Soweit wir diese zurückverfolgen konnten (bis cirka 1690), gab es mindestens drei verschiedene Prause-Zweige dort: das Urbarium von 1791 zeigt unter den Prauses zum einen die Scholzenfamilie (kommt nicht in Frage), zum anderen die Bauern (unwahrscheinlich), des Weiteren mehrere Häusler an, deren Dasein sich oft mit dem Schneidergewerbe koppelte, und schliesslich die Colonisten. Allein “unser“ Franz (Franz Anton Ignatz, 1798-1876), Häusler aus der nächsten Generation, hatte sechs Onkel und ich nehme an, sie zeugten auch tüchtig Kinder, was eine stattliche Anzahl von Vettern ergäbe … Der Vorname Franz taucht in Verbindung mit dem Schneidergewerbe in mehreren Generationen auf.“ Weitgehende Einigkeit besteht darin, daß dieser Franz PRAUSE, der die Kapelle errichtete, Schneider war und in den Kriegsjahren 1813/14 als Soldat diente. Irgendwann zwischen 1866 und 1869 errichtete er die kleine Kapelle hoch im Wald über dem Voigtsdorfer Oberdorf. Weitere Untersuchungen werden uns vielleicht Klarheit über die Identität des Erbauers bringen. Aber das wird eine Arbeit in Archiven und nicht mehr vor Ort.
Doch zurück zur Suche nach der Kapelle:
Erster Versuch: Ich war mehrere Tage unterwegs, um Material für einen Journalartikel über die Burg Schnallenstein und einen Bericht zu den Salzlöchern zu sammeln. Es goß in Strömen, die Straßen in Seitendorf waren eher Bäche und die Burg Schnallenstein hatte ich nicht gefunden. Dafür folgende tolle Karte:
Mit Karte hat dieses touristenfeindliche Werk eher weniger zu tun, es handelt sich mehr um eine ganz grobe Skizze. Sehenswürdigkeiten wird man damit nicht finden. Sieht aber schick aus… Man findet die „Karte“ an verschiedenen Orten in der Grafschaft. Was man sich bei der Herstellung gedacht hat, hat sich mir bis heute noch nicht erschlossen.
Anschließend wollte ich noch zum Fort Wilhelm, also konnte ich ja auch noch ein paar Bilder von der Kapelle machen. Liegt ja in der Nachbarschaft 🙂 Gesagt, getan. Über sechs Stunden bin ich bei dichtem Nebel und teilweise strömenden Regen durch die Wälder nördlich des Oberdorfes von Voigtsdorf geirrt. Gefunden habe ich nichts. Nicht die kleinste Andeutung einer Kapelle. Das war im Herbst.
Zweiter Versuch: So eine Pleite kann man natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Also Infos eingeholt, speziell auch die alten deutschen 4cm-Meßtischblätter beschafft. Sowohl Burg Schnallenstein als auch die Kapelle waren darauf verzeichnet. Also den Spätherbst genutzt und noch einmal in die Grafschaft Glatz gefahren. Es lag Schnee, aber man fährt ja Allrad. Die Burg Schnallenstein habe ich auf Anhieb gefunden, also sofort weiter nach Voigtsdorf. Es wurde zeitig dunkel, folgerichtig stand eine Nacht im Auto an. Nach dem Erwachen blieb es bei der Dunkelheit – eine dicke Schneeschicht bedeckte das Auto. Egal – ich wußte ja nun, wo die Kapelle liegt. Das erwies sich bei der anschließenden Wanderung durch die westlichen Voigtsdorfer Forste schlicht als Irrglaube: Da war keine Kapelle. An den Ausgangspunkt zurückgekehrt, konnte auch die Ursache ausgemacht werden. Nicht alle Wege im Voigtsdorfer Oberdorf entsprechen in ihrem heutigen Verlauf auch dem, der auf dem 4cm-Meßtischblatt eingezeichnet ist. Frierend, durchnäßt und nicht sonderlich glücklich habe ich mich auf den Heimweg gemacht.
Dritter Versuch: Nun mußte es aber endlich klappen. Knapp zwei Jahre sind seit dem letzten Besuch ins Land gegangen. In diesen Jahren waren wir nicht untätig. Zum einen haben wir versucht, Zeitzeugen zu finden, die den Standort der Kapelle kennen UND genau beschreiben können. Das war nicht sonderlich von Erfolg gekrönt. Zum anderen wurde natürlich auch die Technik bemüht. Die alte 4cm-Karte wurde georeferenziert. Damit hatten wir die ungefähren Koordinaten. Allerdings noch keine Gewißheit, sie auch nutzen zu können. Aus den vorhergegangenen Besuchen war klar, daß es im dicht bewaldeten Gebiet um den vermuteten Standort schlecht aussieht mit dem GPS-Empfang. Deshalb wurde als Alternative auch eine Methode ausgearbeitet, wie man mit dem Kompaß und Schrittzähler ans Ziel, sprich zur Kapelle kommt. Oder jedenfalls in deren Nähe. Vielleicht…
Los ging es (wieder mal verspätet) zur Mittagsstunde. Nach den üblichen Staus in und um Nachod war klar, daß es wohl an diesem Tag nichts mehr werden würde. Also stand eine Übernachtung im Voigtsdorfer Oberdorf an.
Falls ein Leser auf unseren Spuren wandeln möchte und ebenfalls eine Übernachtung im Auto der Pensionssuche vorzieht: Herumstehende deutsche Autos im Oberdorf sorgen für Besuch. Die Berge ostwärts des Taleinschnittes werden stark bejagt und die Jagdpächter haben natürlich ein Interesse daran zu wissen, wer sich in dieser weitgehend menschenleeren Gegend abseits touristischer Pfade herumtreibt. Wo die Kapelle sich befindet, wußten die beiden Jäger, die zu Besuch kamen, übrigens auch nicht. Ihr Revier liege auf der anderen Seite des Tales… Trotz der nahenden Dämmerung habe ich noch einen kleinen Ausflug auf den Berg gemacht, um Übersicht zu schaffen und mich ein bißchen umzusehen. Dieser Aufstieg wird immer wieder mit einem tollen Blick in Richtung Süden belohnt.
Nach einer (sieht man von den beiden schon oben erwähnten Besuchen ab) ruhigen Nacht und dem Morgenkaffee ging es in den Berg. Mit dem guten Gefühl, daß es heute etwas werden könnte. Beim Aufstieg im Wald waren mir schon am Abend zuvor diverse Trockenmauern aufgefallen, die scheinbar wahllos am Hang aufgetürmt waren.
Diese Trockenmauern gibt es eigentlich nur am Hang westlich des Oberdorfes. Vom Osthang sind mir solche Mauern nicht bekannt, auch aus der Umgebung von Seitendorf oder Spätenwalde nicht. Es gibt zwei generelle Arten dieser Mauern: hangparallele und solche, die der Hangneigung folgen. Die hangparallelen finden sich fast ausschließlich in Bereichen geringer Hangneigung. Sie konzentrieren sich auf das Gebiet südostwärts der Kapelle am Übergang zu steileren Hangbereichen sowie unten knapp westlich des heutigen Waldrandes. Die der Hangneigung folgenden Strukturen kommen in steilen Bereich dazwischen vor. Ich bin mir immer noch nicht sicher, zu was sie dienten. In Frage kommt eigentlich nur Waldwirtschaft, Erosionsschutz von Anbauten und Flurabgrenzung.
Nach einem steilen Anstieg und dem erwarteten GPS-Ausfall war es dann so weit. Die Reste der Kapelle leuchteten vor mir im Licht der Mittagssonne – fast genau an der vermuteten Stelle:
Nein, ich habe im Wald keine Freudentänze aufgeführt. Es breitete sich eher so eine Art Genugtuung und stille Zufriedenheit aus. Ich hatte es geschafft, die Kapelle lag vor mir. Und sie war in besserem Zustand, als ich aus den ersten Bildern, die uns ein alter Einwohner von Voigtsdorf zukommen ließ, gefolgert hatte.
Das Kirchlein ist von Ost nach West ausgerichtet und liegt unmittelbar am SSO-Hang eines kleinen Hochplateaus westlich des Voigtsdorfer Oberdorfes. Die Mauern bestehen aus Setzsteinen im Trockenbauverfahren, die ehemals verputzt waren. Die Westseite schmückte einst ein kleiner, ebenfalls aus Bruchsteinen gesetzter Glockenturm. Der obere Abschluß wurde durch einen kleinen Zwiebelturm gebildet, der auf hölzernen Streben stand. Die Überdachung des Kirchleins selbst besteht aus einer hölzernen Unterkonstruktion, belegt mit Holzschindeln. Nachträglich wurden die Holzschindeln teilweise mit Brettern verstärkt und eine weitere Schicht Schindeln aufgelegt. Wann das passierte, konnte nicht ergründet werden.
Noch heute ist die Raumeinteilung der Kirche deutlich zu erkennen. Im Osten gibt es den eigentlichen Kirchenraum. Ausgestattet war er mit wenigen Holzbänken. Die Wände waren verputzt, ehemals soll sich an einer Wand auch ein Bild befunden haben. Das hatte nach historischen Berichten wenig künstlerischen Gehalt – sprich: es war häßlich – und wurde deshalb kurz nach Fertigstellung übertüncht. An der Ostseite befand sich ein Marienbild in einer altarähnlichen Holzkonstruktion. Mehrere kleine Fenster sorgten für Tageslicht im Raum, auf der Nordseite findet sich eine kleine Nische.
Heute sind Teile der Südwand dieses Hauptraumes aus nicht nachvollziehbaren Gründen eingefallen. Die Zerstörung scheint von der Mitte des Kirchleins ausgegangen zu sein. Wie auf dem Bild oben erkennbar, sind dennoch Teile der Inneneinrichtung und der ursprünglichen Dachkonstruktion erhalten. Trotz sehr gründlicher Untersuchung der vorhandenen Reste fand sich weder eine Jahreszahl noch eine Signatur, die auf den Hersteller oder das Jahr der Herstellung hindeuten würden.
An der Nordseite befanden sich der Glockenturm mit der schon beschriebenen Oberkonstruktion und ein kleines Kämmerlein, in das sich Franz PRAUSE zurückziehen konnte und wohl auch teilweise noch seinem Gewerbe nachgegangen ist. Von diesem Raum ist heute fast nichts mehr erhalten. Geschuldet war das wohl einer teilweisen Bretterkonstruktion, die heute verfallen ist (siehe erstes Foto des Beitrags).
In der Umgebung der Kapelle finden sich Relikte, die wir dem Kreuzweg zuordnen würden.
Neben dem Objekt auf dem Foto gibt es noch zwei weitere in den Waldboden eingelassene Befestigungen.
Bei der Begehung der näheren Umgebung der Kapelle fanden sich so ganz nebenbei noch andere Gründe für einen Besuch:
Manch einer wird sich nach dem Lesen dieses Beitrages vielleicht fragen: „Was, so ein Aufriß für ein paar Steine?“ Ja – denn diese Steine erzählen Geschichte, sind greifbarer Teil der Geschichte. Sie sind es wert, nicht in Vergessenheit zu geraten.
Quellen:
[1]: Dr. Paul REINELT in „Heimat um Brandbaude und Kressenbachtal“, Hrsg. Herbert GEISLER, Salzgitter-Ringelheim, undatiert
© Dieter und Susanna, 2007