Zeitzeugen

Schützengräben im Paradies

Hans J. Richter

Wir sollen uns also freiwillig melden zum Schippen im Osten. Entlang der alten deutsch- polnischen Grenze müssen Schützen-, Lauf- und Panzergräben ausgehoben werden. Der Sondereinsatz der Hitlerjugend stellt natürlich nur eine Vorsichtsmaßnahme dar. Soweit werden die Bolschewisten niemals kommen. Das hat der Führer in seiner letzten Rede feierlich versprochen. Die Sommerferien im 5. Kriegsjahr 1944 einmal anders erleben, beim Schanzen. Mutti fängt an zu weinen, als ich ihr von dem Plan unseres Oberschuldirektors Windfuhr berichte, gleich nachdem ich mit dem Fahrrad aus Bernau in Lobetal angekommen bin. Der hat diesen wiederum über den Bannführer im Auftrag der Reichsjugendführung erhalten. Das Mittagessen, ein Kohlrabieintopf, ist noch nicht gar, weil ich diesmal schneller als sonst über Ladeburg nach Hause gefahren bin, um meinen Eltern diese wichtige Nachricht mitzuteilen. Nur körperbehinderte oder schwächliche Schüler brauchen nicht mitzumachen. Alle anderen sollten stolz sein, unser geliebtes Vaterland verteidigen zu helfen, tönt unser Klassenlehrer, der Mitglied der SS ist, den wir aber noch nie in Uniform gesehen haben und der eigenartigerweise nicht zum Wehrdienst eingezogen ist. Es sind ja noch sechs Wochen Zeit bis zum geplanten Einsatz. Vielleicht schlagen unsere tapferen Soldaten die sowjetischen Horden bis dahin zurück meint “Jumbo”, unser Erdkundelehrer, genau so, wie sie die “Anglo-Amerigauner” an der Invasionsfront wieder ins Meer werfen werden. So sarkastisch beliebt er die westlichen Kriegsgegner zu titulieren. Dabei funkeln seine Augen grimmig unter der ungekämmten Mähne während seine linke Hand ans Revers seines braunen Jacketts greift, an dem sein “Bonbon”, das Parteiabzeichen prangt, als ob er sich daran festhalten will. Für seinen Zorn haben wir Verständnis, denn er ist vor wenigen Wochen in seiner Berliner Wohnung total ausgebombt worden, hat alles Hab und Gut mit einer umfangreichen Bibliothek verloren und konnte im Luftschutzkeller gerade nur sein nacktes Leben retten. Was wird Vater bloß dazu sagen, wenn er aus der Heuemte zum Essen nach Hause kommt, faßt sich meine Mutter schließlich, als ich ihr alles erzählt habe.

Vater ist skeptischer. Er scheint mehr über die militärische Lage zu wissen und über die politische Situation zu ahnen, als er zugibt, denn er ist Angehöriger der Bekennenden Kirche und stimmberechtigt im Lobetaler Gemeinderat. Ich habe manchmal den Eindruck, daß er uns Kinder nicht unnötig beunruhigen möchte mit Geheimnissen, die er von Herrn Pastor Braune, unserem Anstaltsleiter und Bürgermeister erfährt. Erst kürzlich hat er mir anvertraut, daß er es schon lange bereut, bei der Reichstagswahl 1932 Hitler seine Stimme gegeben zu haben. Im vorigen Jahr mußte mein Vater der Landwacht beitreten, weil er als landwirtschaftlicher Inspektor des Lobetaler Anstaltsgutes vom Reichsnährstand uk, d.h. unabkömmlich gestellt, also vom Wehrdienst befreit ist. Die Landwacht hat von der NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, die Aufgabe bekommen, die Heimatfront auf den Feldern und in den Wäldern vor Sabotageanschlägen feindlicher Agenten, Fremdarbeiter oder anderer möglicher Feinde des Reiches zu schützen. Zu diesem Zweck hat man ihm eine Pistole und eine weiße Armbinde mit dem Hoheitsadler und der schwarzen Aufschrift Landwacht ausgehändigt. Beide Utensilien hat er sorgfältig weggeschlossen. Lediglich für das statistische Landesamt stellt er regelmäßig auf Formularen Berichte mit landwirtschaftlichen Daten, im wesentlichen über Ernteerträge zusammen.

Am nächsten Morgen nach dem “Antreten” vor der Hausvaterbaracke, das ist die Arbeitsbesprechung und Einteilung des Gartenbaudirektors mit den Kolonnenführem für die verschiedenen Plantagen (s. Bild 1) nimmt mich Vater mit in die Gerätekammer neben dem Wagenschuppen und sucht einen neuen leichten Spaten für mich aus, in dessen Griff ich gleich meine Initialen einkerbe. Jeder Oberschüler hat nämlich einen eigenen Spaten als Schanzwerkzeug mitzubringen. Vierzehn Tage vor der Abfahrt gen Osten, an einem Donnerstag, den 20. Juli, hören wir in den 20- Uhr- Nachrichten aus unserem Volksempfänger VE 301 dyn, daß auf den Führer ein Sprengstoffanschlag von einer kleinen Clique gewissenloser und zugleich verbrecherisch dummer Offiziere verübt worden ist. Spät abends spricht Adolf Hitler selbst über den Reichsrundfunk mit wütender und von Gewitterstörungen verzerrter Stimme, daß die Schuldigen jetzt unbarmherzig ausgerottet werden sollen. Am folgenden Tag ist das Attentat auf den Führer das Tagesgespräch in Lobetal. Nicht die Vorsehung, sondern Gott hat ihn errettet, heißt es. Die Sonntagspredigt steht ebenfalls im Zeichen seiner Fügung, denn es gibt keine Obrigkeit denn die von Gott. Ich wundere mich über so viel Ergebenheit, weil doch eine Reihe von Pfarrern der Bekennenden Kirche, wie Martin Niemöller, inhaftiert sind. Davon scheint unser geliebter Führer nichts zu wissen, meinen die Leute. Das macht sicher alles Himmlers SD und die Gestapo, also der Sicherheitsdienst und die Geheime Staatspolizei.

Bild 1: Antreten zur Arbeit in Lobetal
Bild 2: Flak- Bunker für 15.000 Personen.

Am Freitag, den 4. August, müssen alle außer zwei kränklichen Klassenkameraden sowie die Jungen der Klasse unter uns, darunter meine Freunde Artur und Jürgen, um 10 Uhr mit Spaten, Brotbeutel mit Verpflegung für zwei Tage samt gefüllter Feldflasche, in HJ- Uniform auf dem Bernauer Bahnhof antreten. Zu unserem Erstaunen haben auch einige Hundert Hitlerjungen unseres Bannes 372 aus den Volksschulen von Bernau und des umgebenden Kreises Niederbarnirn den gleichen Marschbefehl wie wir Oberschüler erhalten. Mit der S- Bahn fahren wir bis zum Bahnhof Zoologischer Garten. Dort soll der Transport auf dem Fernbahnsteig zusammengestellt werden und mit für uns noch unbekanntem Ziel in Richtung Osten abgehen. Gerade angelangt, kommt vom Bannführer der Befehl, den Bahnhof sofort zu räumen und zum nahegelegenen großen Flakturm zu marschieren. Es besteht L 15. Das bedeutet Luftgefahr; innerhalb von fünfzehn Minuten ist mit Fliegeralarm zu rechnen. Frauen mit Kindern an der Hand und ältere Männer strömen bereits aus mehreren Straßen zu dem riesigen Zoobunker und verschwinden durch die weit geöffneten Stahlpanzertore ins Innere des gewaltigen Betonklotzes (Bild 2). Auf den Plattformen recken sich Doppelrohre der schweren 12,8-cm-Flak- Geschütze in den Himmel, die man aber nur vom Bahnsteig aus sehen konnte. Nachdem wir alle in der spärlich beleuchteten großen Halle verschwunden sind, werden die Haupttore geschlossen. Für Nachzügler bleiben zwei Stahltüren geöffnet. Es ist ein eigenartiges Gefühl, zum erstenmal in der Großstadt Berlin, umgeben von ausgebombten Hausruinen, in einem derartigen Festungsdom gemeinsam mit schutzsuchenden Zivilisten und weinenden Kleinkindern inmitten eines gespenstisch gedämpften Stimmengewirrs eingeschlossen zu sein. Der Flakbunker bietet maximal 15000 Personen Schutz. Werden die meterdicken Stahlbetondecken und Wände einem Bombenteppich der anfliegenden amerikanischen Bomberpulks standhalten? Stehend lauschen wir angespannt nach draußen. Doch durch die dicken Betonschichten und geschlossenen Stahlfensterläden hindurch läßt sich nicht feststellen, was außerhalb unserer Arche Noah vor sich geht, zumal auch die Panzertüren inzwischen fest verriegelt worden sind. Nach einer Weile hören wir dumpf dröhnende Geräusche. Schießt die Flak? Wird Charlottenburg bombardiert? Das Weinen der Kinder schwillt an, ebbt aber bald wieder ab, nachdem es draußen ruhiger wird. Nach etwa zwanzig Minuten öffnen sich Tore und Türen. Alle dürfen den Flakbunker wieder verlassen, als ob nichts gewesen wäre. Keine Erklärung, ob es inzwischen Fliegeralarm oder schon wieder Entwarnung gegeben hat. Diese verdammte Ungewißheit wird uns nicht nur auf der ganzen Fahrt, sondem während des gesamten Einsatzes begleiten und gibt naturgemäß fortwährend zu allerlei Latrinenparolen Anlaß.

Gegen 13 Uhr steigen wir auf dem Fembahnsteig außerhalb der großen Bahnhofshalle in den Sonderzug, der aus alten Personenwagen verschiedener Bauart zusammengekoppelt worden ist (Bild 3).

Bild 3: Hitlerjungen und alte Männer warten auf den Transport zum Bau des “Ostwalls” im Herbst 1944 auf einem Bahnhof

Das Gepäck, Handkoffer oder Kartons, manche tragen nur einen Rucksack mit aufgerollten Pferdedecken, verstauen wir in den Gepäcknetzen oder unter den hölzernen Sitzbänken im Abteil. Die Spaten kommen in die Hutablage, da sind sie am wenigsten im Wege. Brotbeutel und Feldflasche sollen umgeschnallt bleiben. Nach etwa einer Stunde Wartezeit setzt sich der zusammengewürfelt aussehende Zug endlich in Bewegung. Wohin geht denn die Fahrt? Erst mal mit der Hand über den Alexanderplatz, weil die Toiletten knapp sind, dann passieren wir im Bummelzugtempo Ostkreuz. Kaum hat der Transport mit schätzungsweise 2000 Hitlerjungen das Weichbild von Groß- Berlin verlassen, bleibt er auf freier Strecke stehen. Dann geht es mit der Geschwindigkeit einer Kleinbahn weiter. Auf dem nächsten Bahnhof, ich glaube es ist Fürstenwalde, wird der Zug offensichtlich auf ein Abstellgleis rangiert. Ein Güterzug mit Panzern, Geschützen und anderem gegen Regen oder Sicht abgedeckten Kriegsmatehal für die immer näher rückende Ostfront hat Vorfahrt. Nach weiteren kurzen Fahrtetappen, Abstellgleisen, Umleitungen und Warten, immer wieder Warten, erreichen wir Frankfurt an der Oder. Hier kommt uns auf dem Nachbarbahnsteig ein Zug mit Schwerverwundeten entgegen, die hinter den Fensterscheiben in ihren weißen Verbänden auf Bahren liegend einen deprimierenden Eindruck auf uns machen. An der Seitenwand des Lokomotiv- Tenders befestigt steht auf einem großen weißen Plakat: RÄDER MÜSSEN ROLLEN FÜR DEN SIEG! Während der Lazarettzug langsam weiter rollt, werden urplötzlich alle Abteile von HJ- Führem mit Sonderarmbinden gefilzt. Was suchen die denn? Aha, Zigaretten, hören wir noch rechtzeitig aus dem Nachbarabteil! Da die meisten von uns erst 14 oder 15 sind, dürfen wir noch nicht rauchen. Aber wohl jeder dritte dürfte heimlich Zigarettenschachteln dabei haben, ein äußerst knapp gewordenes Genußmittel für die erwachsenen Volksgenossen, das es, wenn überhaupt, nur noch auf Sonderzuteilung zu kaufen gibt. Mein Freund Jürgen hat seinem Vater mehrere Schachteln Josetti geklaut, mit dem Markenzeichen: “Aus gutem Grund ist Juno rund”, die er gerade noch in der Deckenlampe verstecken kann, bevor die Schnüffler die Abteiltür aufreißen. Eine Leibesvisitation und Untersuchung jedes einzelnen Gepäckstücks bringt für unser Abteil Fehlanzeige, weil alle übrigen nicht rauchen und Jürgens Schachteln durch das schwarze Verdunklungspapier der Lampenglocke gut getarnt sind. Die Kontrolleure haben bereits einen halben Korb voller Schachteln, auch einzelne Zigaretten, in anderen Abteilen gefunden und eingesammelt, weswegen ihre Razzia von protestierenden Pfiffen begleitet wird. Die ohnehin miese Stimmung sackt infolge dieser diktatorischen Gängelei auf den Nullpunkt ab, obwohl zur Zeit warmes Augustwetter herrscht.

Der Bummelzug ruckt endlich wieder an und wir fahren langsam aber sicher über Reppeln ins Wartheland hinein. Bei der Ortschaft Topper zweigt eine Bahnlinie nach links ab. Anhand der untergehenden Sonne läßt sich feststellen, daß der Zug offenbar eine nordöstliche Richtung eingeschlagen hat. Wir bereiten uns moralisch darauf vor, eine lange Nacht auf den harten Holzbänken sitzend verbringen zu müssen, denn es ist inzwischen dunkel geworden. Nach dem Verzehr zweier Klappstullen aus dem Brotbeutel werden schlüpfrige Witze erzählt, von denen wir beiden Lobetaler auf Grund unserer frommen Erziehung nicht alle verstehen aber trotzdem mitlachen, um nicht als Hinterwäldler aufzufallen. Dann hält der Zug wieder mal an, doch das ist ja nichts Neues. Als wir Rufe wie Zielstation und aussteigen vernehmen, glauben wir, man will uns Schipper wieder mal auf die Schippe nehmen. Wo sind wir denn eigentlich? Jemand ruft: “Im Paradies!” und erntet schallendes Gelächter. Doch er hat recht. Im tastenden Strahl einer Taschenlampe lesen wir auf dem Bahnhofsschild tatsächlich in großen Buchstaben: PARADIES. Das ist keine Halluzination, sondern der Name eines großen Doppeldorfes zwischen Meseritz und Schwiebus. Die eine Hälfte unseres Transportes soll hier einquartiert werden, während unser Haufen ins Nachbardorf Jordan marschieren muß, das glücklicherweise mit Paradies fast zusammengewachsen ist. Kurz vor Mitternacht heißt es: “Abteilung halt !” Wir sind vor einem großen Gasthof angelangt, soweit man das in der Dunkelheit überhaupt erkennen kann. Entweder ist hier niemand im Bilde oder man hat mit unserer Ankunft heute nicht mehr gerechnet, wohl eine Folge der verschiedenen Verzögerungen. Als sich im Dorf nichts rührt, beginnen einige ihrem Unmut Luft zu machen. Die Witze- Erzähler fangen an zu jazzen und dazu im Takt mit ihren Spaten aus den Pflastersteinen der Dorfstraße Funken zu schlagen. Im Nu ist die nächtliche Stille wie vom Rabbatz einer Landsknechtshorde zerrissen. Über den Dorfplatz hallen Weisen wie: “Heut’ ist Ludenjazz auf dem Alexanderplatz, all die Luden sind schon da, hotten Panama” und weitere Verse, die ich zum erstenmal höre: “Heut’ ist Rummel im Puff, die Polizei will ooch mal ruff’. Als der Vers mit dem Saxophon spielenden Pfaffen intoniert wird, schäme ich mich über diese Gotteslästerung. Je länger wir warten müssen, um so frivoler und lautstärker schallen die parodierten Verse: “Für eine Nacht voller Seligkeit, da geb ich alles hin, meine Lippen, meine Titten, meine Jungfernhaut, wenn ich in Stimmung bin” wird schon regelrecht gegrölt; eine theoretische sexuelle Aufklärung, denke ich, die praktische wird sicher bald folgen.

“Lied aus!” übertönt ein scharfes Kommando des zurückgekehrten Stammführers die letzten Silben der Strophe. “Messer raus!” folgt wie ein Echo, aber der Rufer ist in der Dunkelheit nicht auszumachen. Die Stimmung wird immer gereizter bis sich eine große Saaltür des Gasthofes von innen öffnet und wir in den mit Stroh aufgeschütteten Tanzsaal hineindürfen um uns für eine provisorische Übemachtung niederzulassen. Das Parkett ist blitzschnell von einigen Hundert übermüdeten Hitlerjungen der ersten Kolonne im wahrsten Sinne des Wortes belegt. Wir übrigen, die wie die Kuh vorm neuen Tor stehengeblieben sind, dürfen aber eine steile Holztreppe hinauf auf den Boden steigen, wo Strohballen herumliegen. Das gibt bequemere Schlafplätze ab als unten auf dem Parkett. Wir entledigen uns bloß noch des umgeschnallten Koppelzeugs mit Brotbeutel und der inzwischen leergetrunkenen Feldflasche und pennen in der allerkürzesten Zeit auf den provisorischen Kopfkissen aus Gepäckstücken und Strohwischen ein. Einmal schrecke ich kurz auf, weil mir irgend ein kleines Tier übers Gesicht krabbelt, wird wohl ein Mäuslein gewesen sein. (Im Anhang ist eine Postkarte faksimiliert, die ich im Nachlaß meines Vaters aefunden habe, auf der ich meinen Eltern die Ankunft in Jordan – Paradies mitteile, außerdem Ausschnitte einer Landkarte vom Wartheland und eines zedgenössischen Meßtischblattes der unmittelbaren Umgebung).

Um 7 Uhr ist Appell auf dem großen Hof der Gastwirtschaft zwecks Aufteilung in Gruppen von etwa 12 – 15 Mann, darauf Abmarsch zu den einzelnen Bauernhöfen des langgestreckten Dorfes. Unsere Zwölfergruppe wird dem Bauern Moese zugeteilt, so heißt der tatsächlich, was die Spötter naturgemäß zu einschlägigen Witzen anregt. Freundlich zeigt er uns einen mit frischem Heu aufgefüllten Boden in einer kleinen Scheune, wo wir nachts schlafen können, aber um Gottes Willen keine Streichhölzer anzünden und nicht rauchen dürfen. Diesmal sind Artur, Jürgen und ich auf dem Kien. Wir drei erobern uns sofort die besten Plätze ganz oben auf einem Absatz unterhalb der Dachbalken, auf denen wir auch gleich unsere Klamotten verstauen. Hier oben fühlen wir uns geborgen wie in Abrahams Schoß beim Moses am Jordan im Paradies. Wir haben es hier wirklich prima getroffen. Bloß der erwachsene Sohn des Hofes scheint eine erhebliche Macke zu haben. Bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit rennt er zu seinem Vater, um irgend eine angebliche Schandtat von uns zu petzen. Als wir eine Bohle über den hinter dem Hof vorbeifließenden Bach legen, um trockenen Fußes darüber hinweg zu gelangen, ruft er in einem fort mit weinerlicher Stimme: “Ach du herzliebster Vater, da liegt ein Brett im Wasser!” Da wir Lobetaler uns mit Knispels auskennen, gelingt es uns beiden, ihn nach einer ganzen Weile davon zu überzeugen, daß wir die Qualität des Hofes mit der Brückenkonstruktion ganz erheblich verbessert haben. Am nächsten Tag beginnt das Spielchen allerdings wieder von vom und sein Ausspruch: “Ach du herzliebster Vater’ wird zur stehenden Redewendung. Da heute, am Sonnabend, zwecks Akklimatisierung erst um 14 Uhr wieder Dienst angesetzt ist, erkunden wir nach eingehender Besichtigung des Bauernhofs mit Garten erstmal in kleinen Trupps die Dorfstraße rauf und runter, anschließend natürlich das Nachbardorf Paradies. Hier ist eine Ortskommandantur für die Einquartierung beider Dörfer eingerichtet. Auf dem großen Gutshof steht eine riesige Feldküche auf Gummirädem, die gerade von polnischen Mädchen gereinigt wird, die dabei im Kessel der Gulaschkanone stehen, dessen Rand ihnen bis zur Brust reicht. Wir sind immer noch auf unsere mitgebrachte Ration für den zweiten Reisetag angewiesen.

Zu 14 Uhr strömen aus beiden Dörfern an die 2000 Hitlerjungen auf dem Appellplatz zusammen. Wir müssen in Dreierreihen antreten, in einem großen Karree Aufstellung nehmen und werden vom Ortskommandanten, einem SS- Offizier, begrüßt, der in militärisch kurzen Sätzen die kriegswichtigen Aufgaben in knappen Zügen umreißt, die uns ab Montag erwarten: Wir sollen nach kilometerlangern Marsch bis in einen bestimmten Geländeabschnitt, in dem sich alte Vorkriegs- Befestigungsanlagen befinden, zwischen diesen Schützen-, Lauf- und Verbindungsgräben unter Anleitung und Beaufsichtigung von Pionieren des Heeres ausheben. Damit haben wir ja gerechnet. Wir wollen uns fleißig einsetzen, um unser Vaterland gegen den Bolschewismus verteidigen zu helfen. Was uns nicht schmeckt ist die Ankündigung, daß unsere Post nicht in die öffentlichen Briefkästen gesteckt werden darf, sondem in einer HJ- Poststelle gesammelt wird, daß es verboten ist, den Bahnhof zu betreten und daß die Dorfausgänge zu unserem Schutz von mit Kleinkalibergewehren bewaffneten Posten eines benachbarten WE- Lagers (Wehrertüchtigungslager) bewacht werden. Angeblich herrscht Partisanengefahr. Das erfahren wir jedoch nicht von offizieller Seite, sondern als Latrinenparole.

Nach dem Wegtreten auf die Quartiere überzeugen wir uns sofort, ob die beiden Ortsausgänge bewacht werden. Tatsächlich stoßen wir sogar beiderseits der Dorfflanken auf Kameraden in grauem Drillichzeug mit HJ- Armbinde, die KK- Gewehre geschultert haben und höchstens ein Jahr älter sind als wir. Sie hindern uns in der Tat am Verlassen des Dorfes. Am anderen Ortsausgang kommt es deswegen um ein Haar zu einer Schlägerei. Doch vor den Knarren haben die provozierenden Kameraden, übrigens die Jazzbubis und Funkenschläger, Respekt. Wir sind ja bloß mit unseren Fahrtenmessem bewaffnet.

Die erste Nacht im Heu fängt lustig an mit der Bestimmung der verschiedensten Kerfenarten. Käfer unterschiedlicher Größe, Spinnen und Heuhopser, versuchen uns in Mund, Nase und Ohren zu krabbeln oder zu springen. Der betäubende Duft des Heus läßt uns trotzdem erstaunlich gut schlafen wie Murmeltiere. Der Sonntag ist ausgefüllt mit Appellen, Politunterricht, zensierter Verlesung des ohnehin schöngefärbten Wehrmachtberichtes und ausgewählter Kommentare zum Kriegsgeschehen, die wohl aus dem Reichspropagandaministerium stammen. Gegen 16 Uhr gibt es die erste warme Mahlzeit aus der riesigen Gulaschkanone nach dreivierteistündigem Anstehen. Da alle Heißhunger haben, schmeckt die Gemüsesuppe mit Fleischeinlage natürlich ausgezeichnet. Nur satt werden wir von dem einzigen Kellenschlag ins Kochgeschirr nicht. Glücklicherweise kocht uns die Bäuerin jeden Abend einen großen Topf Pellkartoffeln, die wir mit Salz bestreuen und hastig verschlingen. Die viel zu knappe tägliche Lebensmittelzuteilung an Brot, Margarine, Wurst und Marmelade gibt es aber erst gegen 23 Uhr, obwohl sich meine Klassenkameraden Kulle und Manne für unsere Gruppe freiwillig als Fourier gemeldet haben. Dadurch kommen wir nie vor Mitternacht zur Ruhe. Diese Desorganisation wird sich leider die ganze Zeit über nicht ändern. Trotzdem ist Montag um 5 Uhr Wecken. Nach der Morgenwäsche unter der Schwengelpumpe auf dem Hof gleich neben dem Misthaufen frühstücken diejenigen, die noch etwas von der nächtlichen Zuteilung übrig behalten haben, was bei den meisten mangels Masse entfällt. Die Bäuerin hat bereits ihre Kühe gemolken und bringt uns eine Kanne heißen Ersatzkaffee mit frischer Milch, den wir dankbar aus unseren Feldflaschen- Blechbechem hinunterschlürfen.

Wer nun denkt, jetzt wird der Spaten geschultert und los geht die Schipperei, der hat sich geschnitten. Der für unseren Haufen zuständige Anführer, ein gewisser Spenner in Reithose und Langschäftem, dazu trägt er eine schwarze Uniformjacke mit weißer Stammführerkordel und einem silbernen Verwundetenabzeichen an der linken Brusttasche, läßt antreten und zum Dorfplatz marschieren, um dort mit drei anderen Gruppen der benachbarten Höfe eine größere Einheit zusammenzustellen. Zu unserem Erstaunen schleppt ein Hüne von Kamerad, der uns nicht bekannt ist, eine HJ- Fahne an. Wie man es von Zeltlagern gehört hat – ich habe Gott sei Dank nie eins mitgemacht -wird nun ein klassischer HJ- Dienst abgezogen. Vom Ausrichten, die Augen links, Augen geradeaus, zur Meldung an den Bannführer, der gar nicht da ist, Augen rechts! Spaten ab, präsentiert den Spaten, Spaten über, links um, im Gleichschritt marsch, ganze Abteilung kehrt und so weiter, und so fort, die ganze Litanei vor- und rückwärts… Hat der Kerl eine Macke? Der ist doch nicht ganz dicht, der ist wohl plemm plemm, sagt jemand aus dem hinteren Glied. Das muß Spenner gehört haben. Wer war das? Natürlich meldet sich niemand. “Ganze Abteilung bis zum Horizont marsch, marsch!” Wir rennen los, den Spaten in Händen. “Hinlegen! Auf marsch, marsch! Volle Deckung. Auf marsch, marsch!” Einer von uns ruft dazwischen: weiterrennen, wenn der Befehl zur Umkehr kommt. “Zurück, marsch, marsch!” Wir rennen weiter wie eine wild gewordene Hammelherde. Da ertönt seine Trillerpfeife, die er an der weißen Kordel aus der Brusttasche gerissen hat. Laß den trillem, wir laufen weiter geradeaus, bis der Horizont in Form einer Hecke erreicht ist. Dort hören wir ihn brüllen, bis sich seine Stimme überschlägt. Mit hochrotem Kopf kommt Spenner hinter uns hergelaufen. “Euch mach ich zur Sau, bis euch das Wasser im Arsch kocht, verlaßt euch drauf !” und noch ein paarmal vor Erregung die einzelnen Silben immer mehr verschluckend: ” verla eu drauf, vala-eu-auf!” Jemand sagt, der hatte einen Kopfschuß, der ist geistesgestört, deshalb ist er zu diesem Heimatposten abkommandiert worden, hat sozusagen einen Heimatschuß verpaßt bekommen. Wir werden nachdenklich. Anstelle des erwarteten Abmarsches ist ein unfreiwilliger Frühsport im Gange. Glücklicherweise beruhigt er sich wider Erwarten und wir können uns verpusten. Als ob nichts gewesen wäre, zieht er einen Völkischen Beobachter aus seiner Meldetasche und liest den Leitartikel des Reichspropagandaministers Dr. Joseph Goebbels laut vor. Bei dieser Gelegenheit bemerken wir tatsächlich eine Narbe auf seiner typischen NSKB, der nationalsozialistischen Krümelbürste, wie ein derart kurzgeschorener militärischer Haarschnitt scherzhaft im Volksmund genannt wird. Dabei ist sein rechtes Augenlied halb geschlossen, wenn er sich aufregt und ständig sein Verla-eu-drauf wiederholt.

Nach weiteren Exerzierübungen, es ist inzwischen 7.30, läßt Spenner in Marschkolonne antreten, wobei er die größten bzw. längsten Kameraden, so bullige Typen, an die Spitze stellt, den Fahnenträger in die Mitte. “Im Gleichschritt marsch!” In blinder Marschdisziplin geht es auf dem Bonbonpflaster dem westlichen Dorfausgang zu. Die WE- Posten grüßen vorschriftsmäßig die Fahne. “Ein Lied!” “Unsere Fahne” schallt’s aus der ersten Reihe. Wir stimmen ein: “Unsre Fahne flattert uns voran, unsre Fahne ist die neue Zeit . . .”, bis zum Ende der letzten Strophe: ” . . denn die Fahne führt uns in die Ewigkeit, unsre Fahne ist mehr als der Tod.” Als wir das Dorf weit hinter uns haben, läßt der Spinner, wie wir ihn jetzt nennen, aber nicht so laut, daß er es hören kann, endlich ohne Tritt weiter marschieren, weil diese Fortbewegungsart weniger ermüdend ist. Erst in Anbetracht des nächsten Dorfes Neuhöfchen, das wir passieren müssen, wird erneut Gleichschritt befohlen und die Fahne im umgehängten Lederköcher aufgerichtet, die der Träger die letzten Kilometer wie ein Gewehr auf der rechten Schulter getragen hat. Beim Durchmarsch wird peinlich darauf geachtet, daß jede Person auf der Dorfstraße die Fahne grüßt. Offensichtlich sind auch hier Hitlerjungen einquartiert, die vereinzelt artig grüßen. Auf dem Dorfplatz steht eine kleine Gruppe, die unsere vorbeimarschierende Einheit nur anglotzt, ohne den rechten Arm zum Deutschen Gruß zu erheben. Ehe wir es uns versehen, erschallt der Befehl: “Hussassassa, faßt die Sau!” Die beiden ersten hünenhaften Riegen, außer dem Fahnenträger, scheren blitzartig aus, rennen auf die völlig verdutzten Kameraden los, prügeln auf sie ein und schlagen zwei Mann zu Boden. In diesem Augenblick kommt ein Wasserträger vorbei, der vorschriftsmäßig seinen Kopf ruckartig zur Fahne wendet ohne die Eimer abzustellen. Man will offenbar diese zulässige, völlig korrekte Ehrenbezeigung mutwilligerweise nicht anerkennen, sondern stukt den Kameraden mit dem Kopf in einen der gefüllten Wassereimer, während der andere umkippt und ausläuft. Nach dieser groben Provokation setzt sich das Rollkommando wieder an die Spitze unserer weiterziehenden Formation und marschiert mit dem Lied: “Es zittern die morschen Knochen der Weit vor dem großen Krieg, wir haben die Knechtschaft gebrochen, für uns waes ein großer Sieg” zum Dorf hinaus. “Wir werden weiter marschieren bis alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!”, Im Liederbuch steht allerdings “. . da hört uns Deutschland”, gegrölt wird jedoch immer nur “gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!” Merkwürdigerweise reißt uns der stakkatoartige Rhythmus beschwingt voran.

Nach weiteren fünf Kilometern durch welliges, von Hecken und Wäldchen durchsetztes Gelände, gelangen wir, linkerhand den Packlitzsee liegenlassend, rechts an alten Bunkerkuppeln des Panzerwerks mit dem Decknamen “Kömer” vorbei (Bilder 4 und 5), zu unserem Einsatzgebiet (Bild 6).

Bild 4 und 5: Bunker und Panzerwerk im Bereich Meseritz
Bild 6: Einsatzgebiet zwischen den Panzerwerken im Raum Packlitzsee – Liebenau

Wir werden von einem Pionier- Oberfeldwebel in Empfang genommen, der unserem Einheitsführer an Hand von Lageplänen erläutert, wo und wie wir zu graben haben (Bild 7).

Bild 7: Einweisung zum Schanzen durch einen Oberfeldwebel der Pioniertruppe

Auf den abgeemteten Feldern sind bereits im Zickzack verlaufende Furchen markiert, an denen entlang 1,50 m tiefe Schützengräben, dazwischen 2 m tiefe Verbindungslaufgräben auszuheben sind. Gegen 10 Uhr geht die Schipperei los. Anfangs macht das Abstechen des Bodens direkt Spaß. Als wir tiefer in den Sandboden eindringen, wird es immer mühsamer, den Sand nach oben auszuwerfen. Eine Schippe wäre hierzu geeigneter als ein Spaten. Jeder kriegt einen Abschnitt von zwei Meter Länge zugeteilt. Bis zur Mittagspause sind wir knapp einen Meter tief. Die ungewohnte Anstrengung und die sengende Sonne läßt den Schweiß in Strömen fließen, obwohl wir nur noch die kurze schwarze Uniformhose anbehalten haben (Bild 8).

Die Feldflasche ist längst ausgetrunken. Die letzten 50 cm bis zur vorgeschriebenen Tiefe strengt am meisten an. Der Auswurf muß oben noch planiert werden. Die Kameraden in den Verbindungsgräben brauchen natürlich länger bis sie auf der 2m- Sohle angelangt sind, während wir uns erst mal ein wenig verschnaufen. Manne, der Fourier, der wegen seines nahrhaften Amtes von einigen beneidet wird, setzt sich aus Jux auf den Boden eines gerade fertiggestellten Laufgrabens und sagt: “Jetzt warte ich auf mein Ende!” Im gleichen Augenblick rutscht über ihm eine mehrere Meter lange Seite der Grabenwand ab und begräbt ihn bis zum Hals im Sand, was allgemeine Heiterkeit auslöst, am meisten bei ihm selber. Doch das Gelächter ebbt schnell ab, weit er anfängt zu klagen, daß ihn der Sand drückt und er zu frieren beginnt. Wir packen unsere Spaten und rufen ihm zu: “Du bist gleich wieder draußen”. Doch leichter gesagt als getan. Um ihn nicht zu verletzen, darf man nicht dicht am Körper graben, sondem muß versuchen ihn mit den bloßen Händen aus seinem Hocksitz zu befreien, was naturgemäß länger dauert als mit dem Spaten. Währenddessen klagt Manne immer nachdrücklicher über Schmerzen in den steif werdenden Beinen. Nach einer halben Stunde, wir haben ihn beinahe ausgebuddelt, bricht die gegenüber liegende Grabenwand herunter und der kiesartige Sand stürzt wieder auf ihn herab, so daß er abermals bis zum Hals im Sand gefangen sitzt. Wir Helfer sind einen Augenblick stumm vor Schrecken. Manne wird kreidebleich im Gesicht. Was wäre passiert, wenn beide Grabenwände gleichzeitig heruntergebrochen wären? Wir wagen nicht daran zu denken, sondem setzen unsere Bergungsbemühungen in verschärftem Tempo fort. Das hätte wohl tatsächlich sein Ende bedeutet. Als er bis zu den Oberschenkeln freigelegt ist, meinen wir, daß er nun bloß noch aufzustehen braucht. Er ist aber nicht mehr dazu in der Lage, weil ihn der restliche kompakte Sand wie in einem Schraubstock festhält. Wie hilflos kann der Mensch durch ein bißchen Sand werden.

Manne erholt sich in der warmen Sonne erstaunlich schnell und macht uns, seinen Lebensrettern, den Vorschlag, durch den inzwischen von den anderen Kameraden fertiggestellten Laufgraben zum Seeufer hinunter zu verduften. Er will sich von Sand und Angstschweiß befreien. Wir sollen uns quasi zur Belohnung für die Rettungsaktion durch ein Bad abkühlen. Da der Zwischenfall nicht weiter aufgefallen ist, sich weder ein Anführer noch ein Pionier blicken läßt, weihen wir sogleich den Laufgraben ein, laufen in ihm zunächst bis zum Ende und bewegen uns dann die nächsten dreihundert Meter, jede natürliche Deckung ausnutzend, teilweise robbend, um nicht gesehen zu werden, a’ la Winnetou bis zum Schilfgürtel des Seeufers. In einer gegen Sicht geschützten Bucht stürzen wir uns wie die Wildsäue, wir sehen auch so aus, in Militärbadehose, d.h. splitternackt in das klare Wasser des Packlitzsees (Bild 6). Nach einem erfrischenden Bad legen wir uns vom klebrig sandigen Schweiß der letzten Stunden wohltuend befreit ins Gras und lassen die nasse Haut von der Augustsonne trocknen. Nicht nur ich schlafe völlig übermüdet dabei ein.

Einige Kameraden des benachbarten Grabenabschnitts müssen unser Verschinden bemerkt haben. Vielleicht sind sie auch spontan auf die naheliegende Idee gekommen, denn nach einer Weile springt nebenan ein zweiter Trupp ins Wasser und gesellt sich nach dem Bad schmunzelnd zu uns. Dann hören wir Trillerpfeifen vom Laufgraben her und sehen Spenner und andere Anführer nervös hin und herlaufen, die jetzt offenbar den Anfang des Laufgrabens auf der Anhöhe bewachen lassen. Nun können wir nicht mehr zurück ohne aufzufallen. Wir wollen nicht zum Auftakt der Vaterlandsverteidigung gleich in den Bau wandern. Manne, der Dienstälteste, der uns immerhin zu der Tat verleitet hat, rät erst mal abzuwarten und in Deckung zu bleiben, bis die Schanzarbeit für heute beendet ist, um dann unauffällig auf eigene Faust den Rückzug anzutreten und, uns kleckerweise auf dem Heuboden einzufinden, als ob nichts gewesen wäre. Jetzt können wir endlich mal die in so manchem Geländespiel gesammelten Erfahrungen für uns privat ausnutzen. Da alles noch nicht richtig eingespielt ist, gelangt jeder uogeschoren zu seinem Schlafplatz. Beim Essenfassen an der Gulaschkanone grienen sich die Eingeweihten vielsagend an und lüften erst vorm Einschlafen vor der übrigen Heubodenbesatzung das Geheimnis.
Am nächsten Morgen wiederholt sich das parteichinesische Theater mit Spenner wie gehabt. Er achtet beim Politunterricht peinlich darauf, daß niemand grinst, weil er das als persönliche Beleidigung auffaßt, womöglich sogar für den Ausdruck einer ideologiefeindlichen Haltung einstuft. Versucht mal in einer derartig tragikomischen Situation ernst zu bleiben, wenn jedes Lächeln, Grinsen, ganz zu schweigen von lautem Lachen, strengstens. verboten ist. Wer nicht mehr an sich halten kann und dagegen verstößt, wird aus Reih und Glied herausbefohlen und vor der ganzen Einheit zur Sau gemacht: dreißig Liegestütze, auf und nieder, bis zum Horizont marsch, marsch, robben mit dem Spaten bis die Ellenbogen schmerzen, dabei auf entwürdigende Weise angeschissen zu werden mit Ausdrücken wie: “dir werde ich schon die Eier schleifen du Schießbudenfigur, du krummes Würstchen, du bevölkerungspolitischer Blindgänger, verlaß dich drauf, veria-i-dauf, vala-i-auf !”. Erst als sich alle mit todernsten Mienen stumm verhalten, marschieren wir los zum Schanzen.

Nachmittags zieht ein schweres Gewitter auf. Wir dürfen uns wegen der kräftigen Regengüsse in ein nahegelegenes Kiefemwäldchen zurückziehen, obwohl man darin in der kürzesten Zeit ebenso durchnäßt ist wie die draußen am Waldrand gebliebenen Kameraden. Wir erreichen eine Waldlichtung, an deren innerem Rand eine dickere Kiefer steht. Ihr Stamm hat sich in einer Höhe von etwa einem Meter in drei Einzeistämme geteilt, die von da an weiter in die Höhe gewachsen sind und alle anderen benachbarten dünneren Baumstämme weit überragen. Drei Kameraden, die ich nicht kenne, klettern in diese Dreifaltigkeitskiefer hinein und lehnen sich von innen mit dem Rücken an die drei Stämme. Unsere Spaten haben wir in der Art, wie es Soldaten mit ihren Gewehren tun, in Dreierpyramiden aufgestellt oder einfach an die Bäume gelehnt. Es gießt in Strömen, blitzt und donnert unaufhörlich, ein regelrechter Wolkenbruch ist im Gange. Da bei schweren Gewittern bei uns zu Hause der Blitz fast jedes Jahr mehrmals in die riesige Eiche hinter dem Schweinestall eingeschlagen ist und ihre Rinde zerfurcht hat, wame ich die drei vor der Gefahr, die von hohen Bäumen ausgeht. Dabei hocke ich mich, um meine Mahnung zu unterstreichen, in die Mitte der Lichtung, also von allen umstehenden Kiefern möglichst gleich weit entfernt auf den nassen Waldboden. Sie meinen, ich wäre ein Angsthase, ihnen würde schon nichts passieren, ein deutscher Hitlerjunge fürchtet weder Tod noch Teufel. Als ich meine Erfahrung mit der Eiche wiederhole und die merkwürdig gewachsene Kiefer dabei ernst und erwartungsvoll anstarre, wobei ich meine Hacken mit den Händen an den Körper heranziehe, also eine Art Höckersitz einnehme, bequemt sich zunächst einer, kurz darauf die beiden anderen von ihrem Hochstand herunterzuspringen und sich in einigen Metern Abstand von der Kiefer hinzustellen. Wenige Sekunden später gibt es einen ungeheueren Knall, gleichzeitig blendet mich ein sonnenheller Feuerstrahl aus der Kiefer. Im selben Augenblick spüre ich einen heftigen Schlag gegen meinem Hintern, als ob jemand mit einem Vorschlaghammer von unten gegen den Waldboden haut, ein Mittelding zwischen mechanischem und elektrischem Schlag. Von der Kiefer splittern Äste ab und abgeschälte Borke fällt herunter. Der zuletzt hinuntergesprungene und dem Stamm am nächsten stehende Kamerad schlägt wie ein Kegel zu Boden. Der etwas weiter abstehende geht in die Kniebeuge, als ob ihm jemand den Befehl dazu gegeben hätte und verharrt wie verhext einige Sekunden in dieser Haltung. Der am weitesten entfernte macht einen unfreiwilligen Bocksprung. Ich beobachte diese gleichzeitig ablaufenden Bewegugen und Ereignisse höchst erstaunt von meinem nassen Parkettsitz aus wie auf einer kleinen Experimentier- Theaterbühne. Die anderen Schipper in der Runde sind stumm vor Schrecken. An jeder Innenseite der dreigeteilten Kiefer, wo eben noch die Kameraden gelehnt hatten und am Stamm entlang, bis zum Waldboden hinunter, verläuft ein etwa ein Zentimeter breiter, vom Blitz abgeschälter heller blanker Holzstreifen. Kurz darauf hört es auf zu regnen und das Gewitter zieht ab. Die drei Kameraden gucken mich mit verstohlenen Blicken an ohne ein Wort zu sagen. Ob sie sich bewußt sind, daß mein Ratschlag ihnen das Leben gerettet hat? Bald darauf wird zum Sammeln getrillert und wir marschieren naß wie die Katzen, einem geschlagenen Landsknechtshaufen gleich, ohne Tritt und ohne Lied nach Jordan- Paradies zurück.

Die Erklärung für den eigenartigen Schlag zwischen meinem nassen Allerwertesten und den feuchten Hacken meiner hohen Lederschuhe bekomme ich erst zehn Jahre später in der Vorlesung über Gewitter und Gewitterschutz an der Technischen Universität Berlin. Es handelte sich damals um die sogenannte Schrittspannung, die entsteht, wenn sich der Blitzimpulsstrom im Erdreich ausbreitet und nach dem ohmschen Gesetz zwischen zwei verschiedenen radialen Punkten des sogenannten Spannungstrichters abgeghffen wird. Hätten Pferde oder Kühe auf der Waldlichtung gestanden, wären sie infolge des zu hohen Spannungsfalls zwischen ihren Extremitäten auf der Stelle tot umgefallen, weil der Abstand, insbesondere zwischen den vorderen und hinteren Füßen bei den Tieren, wesentlich größer ist als beim Menschen.

Jeden Tag wird der Anmarschweg länger, weil sich das fertiggestellte Grabensystern in der Länge und Breite, im Militäjargon heißt es in der Tiefe, immer weiter ausdehnt. An den Händen von uns Oberschülern entstehen lästige Blasen. Die Handwerker unter den Kameraden sind da besser dran, die kriegen höchstens dickere Schwielen. Der nächste Sonntag Nachmittag dient der Freiwilligenmeldung zu den einzelnen Waffengattungen der Wehrmacht. Alle, die ihren Annahmeschein aufgrund einer früheren Freiwilligenmeldung bereits in der Tasche haben, wie Artur und ich, dürfen zur Freizeitgestaltung wegtreten. Den übrigen werden von Vertretern der drei Wehrmachtteile in Uniform Werbevorträge gehalten, die am Ende jedesmal eine Welle von Meldungen auslösen, die sofort registriert werden, so daß der angetretene Haufen jeweils ruckartig zusammenschrumpft. Unser Freund Jürgen hat sich bislang nicht gemeldet. Deshalb muß er mit einigen anderen standhaften Kameraden weiter unter sengender Sonne auf dem heißen, staubigen Appellplatz stehen bleiben. Sobald die Werbesoldaten der Wehrmacht mit ihren Karteikästen abgerückt sind, entartet die Aktion zusehends in eine regelrechte Nötigung, weil sich aus der restlichen Gruppe niemand mehr freiwillig melden will. Jetzt sind nur noch die HJ- Führer, ein Mitglied der NSDAP und ein Angehöriger der Waffen- SS anwesend, deren Überredungston allmählich in eine Verunglimpfung, ja Verächtlichmachung ausartet. Die kleine Schar läßt sich jedoch nicht erweichen. Uns, die wir aus Solidarität dageblieben sind und alles mitansehen und anhören, versucht man als lästige Augenzeugen dieser widerwärtigen Prozedur zu vertreiben. Wir bleiben aber da und machen dem kleinen Häuflein Mut. Da die HJ- und Parteibonzen den Sonntagnachmittag offenbar auch lieber als Freizeit genießen wollen, jagen sie die kleine Gruppe von fünf Oberschülern schließlich unter Beschimpfungen wie “Schande für das Deutsche Volk” und “Wehrkraftzersetzer’ vom Platz. Soviel zur Freiwilligenmeldung. Das ist leider nicht das Ende der Schikanen. Es soll noch schlimmer kommen.

Der Sohn unseres Studiendirektors, dessen Vater vor kurzem durch einen strammen Nationalsozialisten in seinem Amt abgelöst worden ist, hat versucht, einen Brief an der Zensur vorbei nach Hause zu schicken. Wie auch andere Post ist er abgefangen worden. In diesen Briefen wird bittere Klage über die Zustände und die miese Behandlung im Doppeldorf geführt. Die Folge ist eine Maßregelung der Delinquenten vor dem angetretenen Karree aller 2000 einquartierten Hitlerjungen durch den Bannführer nach der öffentlichen Verlesung des Inhalts der beschlagnahmten Briefe. Bei dieser Gelegenheit erfahren wir von einem Fluchtversuch zweier Kameraden mit einem requirierten Kahn den Dorfbach hinunter. Auf dem Bahnhof von Meseritz sind sie von der Feldgendarmerie, den sogenannten Kettenhunden, aufgegriffen, festgenommen und einer HJ- Streife übergeben worden. Sie sitzen jetzt mit kahlgeschorenen Köpfen bei Wasser und trockenem Brot in einem Keller der Kommandantur, eingesperrt wie Schwerverbrecher eines Zuchthauses. Die Folgen dieses angeblichen Defätismus bestehen in einer verschärften Bewachung und einer gesteigerten Berieselung mit NS- Ideologie. Zwecks wirksamerer Indoktrination müssen wir noch eine Stunde früher aufstehen. Wir, die Oberschüler unseres Hofes und die Kameraden der benachbarten Höfe beschließen daraufhin, ein derartiges Polit- Theater nicht länger mitzumachen, sondem beim Wecken, jetzt schon um 4 Uhr nachts, einfach liegen zu bleiben. Wir wollen so geweckt werden, daß wir zwar rechtzeitig zum Abmarsch ins Gelände bereit sind, wegen der primitiven NS- Schulung durch den bescheuerten Spenner sind wir jedoch nicht bereit, noch eine weitere Stunde unseres ohnehin viel zu knappen Nachtschlafes zu opfern.

Spenner ist außer sich, als er von unserer Absicht unterrichtet wird. Er macht sofort dienstliche Meldung beim Ortskommandanten. Er behauptet darin, wir seien in den Streik getreten und betreiben Wehrkraftzersetzung, während unsere tapferen Väter und Brüder täglich ihr Leben an allen Fronten für Führer, Volk und Vaterland einsetzen. Der Ortskommandeur blockiert per Befehl, daß unsere Gruppe mit den anderen zum Schanzen rausmarschiert. Stattdessen werden unsere Personalien in der Schreibstube in vierfacher Ausfertigung aufgenommen. Wir müssen in Linie antreten und eine Stunde lang strammstehen. Dann befiehlt Spenner: “Alle Oberschüler zehn Schritte vortreten!” woraufhin fast die ganze Gruppe vorschreitet. Wir werden sarkastisch gefragt, was wohl unsere Eltern sagen werden, wenn sie erfahren, daß man uns alle vom Gymnasium relegieren wird. Da wir uns in Reihe und Glied nicht einmal unterhalten dürfen, geht uns Pennälem ganz schön die Muffe. Nach einer Weile hören wir, daß eine der vierfachen Personallisten für ein Jugend- KZ bestimmt ist. Daß es ein Konzentrationslager für Jugendliche geben soll, haben wir gerüchteweise im Zusammenhang mit den sogenannten Swingheinis in Hamburg gehört, die illegalerweise amerikanischen Jazz mit Hilfe von Schellackplatten betreiben, die in Deutschland seit dem Ausbruch des Krieges verboten sind. Wir werden ganz klein und häßlich, fangen an unsere Aufmüpfigkeit zu bereuen und haben die Hosen gestrichen voll. In dieser beschissenen Situation stelle ich mir zum erstenmal die Frage, was wohl die Insassen der KZs erdulden müssen, wenn man mit uns deutschen Hitlerjungen und Oberschülem schon derart rüde umspringt. Der Gedanke ist mir noch nie so bewußt geworden wie in diesen Stunden der Angst und des Ausgeliefertseins an die Obrigkeit, die einem regelrecht die Kehle zuschnürt.
Spenner, der uns die ganze Scheiße eingebrockt hat, scheint nun ebenfalls nachdenklich zu werden. Das mit dem Jugend- KZ hat er nicht gewollt. Auf einmal kommt er mit der zutraulichen väterlichen Masche und fängt zu unserem Erstaunen an Vorschläge zu sammeln, auf welche Weise wir am besten aus dieser gefährlichen Sackgasse hinausgelangen könnten. Nach einigem hin und her beschließen wir trotz der vorgeschrittenen Tageszeit, es ist inzwischen Mittag, rauszumarschieren, um eine Höchstleistung im Ausheben von Gräben zu vollbringen und vielleicht auf Aussetzung der angedrohten harten Bestrafung auf Bewährung zu hoffen. Gegen 14 Uhr sind wir in der Stellung. Ich glaube, wir alle haben in unserem Leben noch nie so schwer geschuftet wie an diesem Nachmittag. Jeder schafft im Durchschnitt ein vier Meter langes, zwei Meter tiefes Laufgrabenstück. Von einem Pionierfeldwebel lassen wir uns diesen Kraftakt schriftlich bestätigen und marschieren quasi mit letzter Kraft bei zunehmender Dunkelheit direkt bis vor die Ortskommandantur. Dem herausgeklopften SS- Offizier macht Spenner eine zackige Meldung, wobei er ihm das Beweisstück unserer Arbeit präsentiert. Ohne ein Wort zu sagen verschwindet der im Innem des Hauses, erscheint aber gleich darauf mit den Personalbögen, zerreißt sie vor unseren Augen und ordnet an, die normale Feldküche anzuheizen, damit sich die fleißigen Vaterlandsverteidiger richtig sattessen können. Jetzt spüren wir erst, daß wir einen Mordskohldampf haben. Die polnischen Küchenmädchen bieten uns Salzkartoffeln mit Gulasch und Rotkohl, ein wahres Festessen bei dem Appetit. Wir hauen entsprechend rein. Zum erstenmal ist genug da, um zweimal Nachschlag zu fassen. Am nächsten Morgen wird zur gewohnten Zeit geweckt. Der Politunterricht überschreitet nicht das gewohnte Maß.

Die Kette der unangenehmen Erlebnisse läßt in uns immer intensiver ein Gefühl aufkeimen, als ob wir bereits Monate lang hier draußen fern der Heimat wie Sklaven Frondienst leisten. Dazu tragen nicht zuletzt die Hiobsbotschaften von den kritischen Fronten und aus der Heimat bei, in der immer mehr Städte in Trümmer sinken durch die flächendeckenden Terrorangriffe der Engländer auf die hilflose Zivilbevölkerung bei Nacht und die verheerenden Bombenteppiche der Amerikaner auf kriegswichtige Ziele bei den Luftangriffen am hellichten Tage bis nach Berlin. Ein verbündeter Staat des Großdeutschen Reiches nach dem andem fällt von uns ab und begeht Verrat am geschlossenen Bündnis. Außerdem kursieren Gerüchte, saß wir noch weiter nach Osten, womöglich sogar nach Ostpreußen transportiert werden könnten, wenn die hiesigen Feldstellungen zwischen den Panzerwerken Jahn, Körner und Schilf fertig ausgehoben und gegen Einsturz abgestützt sind. Die Verschalung ist allerdings Aufgabe des RAD, des Reichsarbeitsdienstes. Manchmal schrecken wir im Schlaf in unseren Heukuhlen auf, weil entfernte Schüsse durch die Nacht peitschen. Unsere Gastgeber meinen, daß es polnische Partisanen sind, die in der Gegend bereits eine Eisenbahnbrücke in die Luft gesprengt haben. Ab morgen werden wir mit der Bahn bis in die Umgebung von Liebenau zum Schanzen gebracht, weil die Entfernung bereits 15 km bis dorthin beträgt (Bild 6).

Vermutlich sind doch Beschwerden von hier an der Zensur vorbei in die Heimat gelangt. Von meinem Freund Artur erfahre ich, daß der Vater seines Klassenkameraden Rudolf, Korvettenkapitän Hoke, der Kommandant der Marineschule Koralle” bei Lanke, nach Paradies kommt, um sich aus eigener Anschauung ein Bild von den miserablen Zuständen zu machen, denen wir hier ausgesetzt sind. Wir hoffen sehr, daß sich durch die Intervention eines so hohen Nachrichtenoffiziers der Kriegsmarine die Zustände bald bessem werden. Artur bekommt plötzlich hohes Fieber und muß ins Krankenrevier. Die Ursache ist unklar. Als es ihm bald wieder besser geht, muß er eine Meldung zur Kommandantur bringen. Da auf Klopfzeichen niemand öffnet, geht er einfach hinein und bemerkt eine üppig gedeckte Tafel mit Bier- und Weinflaschen. So prassen also die Parteibonzen, während wir tagtäglich Kohldampf schieben.
Ob es der Kontrollbesuch des Marineoffiziers bewirkt hat oder die Gesamtplanung vorsieht, nach vier Wochen, die uns wie vier Monate vorgekommen sind, werden wir von einer zweiten Welle Oberschüler der Klassen unter uns abgelöst. Jetzt sind sogar BdM- Mädel dabei, die für eine bessere Lebensmittelversorgung und wirksamere Betreuungsorganisation die Verantwortung übernehmen sollen. Die Rückfahrt dauert nicht so lange wie die Herfahrt, jedenfalls kommt es uns so vor, wahrscheinlich, weil es endlich nach Hause geht. Mutti meint, ich bin noch magerer geworden als bisher, richtig unterernährt sehe ich aus. Deshalb will sie sich vorläufig an den Eintopfsonntagen nicht an die Vorschrift des Reichspropagandaministers halten, sondern jeden Sonntag mehlige Salzkartoffeln, die die Soße schön aufsaugen, mit Fleisch und Gemüse auftischen, damit ich wieder zu Kräften komme.

Vier Monate später, am Heiligabend 1944, wir laufen gerade Schlittschuh auf dem Mechesee, wird mir durch die Post der Einberufungsbefehl zur Flak zugestellt. Aber das ist eine andere Geschichte. Am 30. Januar 1945 werden die tief gestaffelten Stellungen zwischen Meseritz und Schwiebus von der 44. sowjetischen Panzerbrigade durchbrochen, weil die von uns so mühsam angelegten Gräben und die alten Panzerwerke nur teilweise von schwachen deutschen Verbänden besetzt sind. Nach zwei Tagen erbitterter Abwehrkämpfe im Oder- Warthe- Bogen erlahmt der heldenmütige Widerstand gegen die Spitzen von vier sowjetischen Armeen [1]. Mein Freund Jürgen ist als Panzergrenadier eingezogen. Ein Kamerad seiner Einheit, der in einem polnischen Waldgebiet in einer Schützenkette als Vorletzter vor ihm herpirscht, bemerkt, als er sich nach ihm umdreht, daß er selbst auf einmal der Letzte ist. Vermutlich haben Partisanen dem Jürgen lautlos die Kehle durchschnitten. Er gilt seitdem als vermißt.

Literatur

[1] Miniewicz, Janusz; Perzyk, Boguslaw: Miedzyrzecki Rejon Umocniony (Die Festungsfront Oder?Warthe?Bogen) MI-Gl Sp.Cyw. 03-480 Warczawa 1993, 92 S. mit zahlreichen Abb. u. Plänen.
[2] Boberach, Heinz: Jugend unter Hitler. Fotografierte Zeitgeschichte. Droste Verlag, Düsseldorf 1990, S. 132 -135

Bild 8: Das letzte Aufgebot mit Schippe und Spaten

Anhang:

© Hans J. Richter 2002